Rezension in Natur und Landeskunde

von Professor Dr. Gerhard Trommer

Jochen ist Leiter der Schule des kleinen ostgrönländischen Dorfes Sermiligaaq. Er erzählt, dass sie nur einen Lehrer und nur den Katechismus als Schulfach hatten und nur auf Grönländisch unterrichtet wurden, als er Junge war. Zu dieser Zeit bis in die Mitte der 1980er-Jahre waren alle Männer Jäger. Sie fuhren mit Kajaks und Umiaks zur Robben- und Waljagd. Und Jochen sagt, er hofft, dass die Autorin ein gutes Buch schreiben wird.

Es ist ein wunderbar gelungenes Buch. Und Jochen ist darin nur ein Zeuge. Es kommen darin viele Grönländer mit jeweils eigenen Geschichten über die alte und neue Welt zu Wort. Sie wohnen an den Fjorden Sermilik und Ammassalik in Ostgrönland unterhalb des nördlichen Polarkreises.

Die einfühlsam geschilderten biographischen Zeugnisse sind berührt vom Zauber arktischer Faszination der Autorin und Abenteurerin Birgit Lutz.

Die im Buch beschriebenen Siedlungen Ostgrönlands wurden etwa vor 130 Jahren entdeckt. Damals wohnten die Menschen noch in Erdhäusern und lebten ausschließlich von der Jagd. Jagd gibt es noch heute. Es gibt auch noch immer die Sehnsucht junger Grönländer, einmal wie ihre Väter und Großväter von der Jagd und vom Fischfang zu leben und ihre Siedlungen mit Nahrung zu versorgen. Den jungen Männern geht es dabei auch um Anerkennung, Stolz und Identität.

Doch die alte Subsistenzwirtschaft, die die Grönländer mit allem, was sie brauchten, versorgte, ist weitgehend verschwunden und mit ihr verschwindet die Identität der Grönländer. Darin hatte vorsorgende Bildung und Ausbildung nie eine Rolle gespielt. Die alte Welt war die ganz und gar gegenwärtige, in der das aufmerksam wahrgenommene Hier und Jetzt naturaler Gegebenheiten im Mittelpunkt stand. Eine für die Zukunft vorsorgende Bildung und Erziehung waren darin nicht nötig gewesen. Kinder und Jugendliche wuchsen im Kontinuum eines mit den Jahreszeiten wiederkehrenden ökologischen Adressenverzeichnisses auf, das die arktischen Lebensgrundlagen verlässlich abbildete. Dies prägte die Tradition.

Wie Hammerschläge haben die Eroberung Grönlands; Zivilisationsdruck, geldwerte Waren, bürokratische Verordnungen, Alkoholismus, aber auch moderne Naturschutzvorstellungen die alte Welt getroffen und beschädigt. Die Autorin schont ihre Leser nicht. Ihre Kommentierung grönländischer Geschichten berührt hässliche und schmerzhafte Wunden. Zwar blitzt immer wieder die unsagbar herbe Schönheit, Stille und Weite der arktischen Landschaft auf, werden Sehnsucht und Fernweh geschildert, die Dänen und andere Europäer nach Grönland treiben. Aber schöner Landschaft ist es, wie die Autorin schreibt, egal, ob und wie sie wahrgenommen wird oder auch nicht. Das weite Land überspannt Plätze mit verrosteten Hinterlassenschaften ehemaliger Stützpunkte, Plätze mit aufgegebenen Siedlungen und trostlosen Abfällen, die rund um heutige Siedlungen anzutreffen sind. Geografische Schönheit allein vermag den Identitätsverlust nicht zu kompensieren, der vor allem junge Menschen in Alkohol und Selbstmord treibt. Der Zauber der Arktis, jene eigentümlich wilde Klanglandschaft schrammender Eisberge, könnte mehr Touristen reizen, ins Land zu kommen. Dafür wäre die Vision eines Primitive Travel (im besten Sinne des Wortes) zu entwickeln, ein Reisen, das einfach und bescheiden Anteil nimmt, das Bewohnern und Landschaft mit Respekt begegnet, damit Anerkennung, Stolz und Gelassenheit zurückkehren, die in der alten Welt selbstverständlich waren.

Erschienen in: Natur und Landeskunde, Zeitschrift für Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg, 126. Jahrgang 2019