Wie wollen wir leben?

DSC_4670Wenn man ein halbes Jahr aus einer Tasche gelebt und nichts vermisst hat, fragt man sich zuhause, wozu man eigentlich die ganzen Sachen braucht, die da auf einen warten. Warum man sie hat. Warum sie einem nicht gefehlt haben. Warum man zuhause Dinge braucht, die einem unterwegs geradezu absurd überflüssig erscheinen. Und schließlich, ob man nicht auch hier tatsächlich ohne all diese vielen Dinge auskommen kann.

Zurück aus der Arktis, nach sechs Monaten und neun Tagen. Aus dem kleinen, übersichtlichen Universum eines Schiffs, eines Dorfs, sind wir nun wieder ausgespuckt in unsere Welt mit Supermärkten, Onlinebestellungen, Autos, Menschen, Farben, Gerüchen. Monatelang haben wir sehr wenige Spuren von Menschen gesehen. Wir sind über wegloses Gelände gewandert; auf den Bergen und Tälern vor uns, dem Meer um uns gab es nichts außer uns. Keine menschlichen Spuren, keine Autos, keine Straßen, Wege, Lichtmasten, Hütten, nicht einmal Flugzeuge am Himmel. Wir haben die Welt so gesehen, wie sie ohne uns wäre (sieht man von dem Plastikmüll ab).

Das macht etwas mit uns. Jedes Mal, wenn ich zurück komme, fällt mir mehr auf, wie sehr der Mensch die Welt verändert. Wiesen werden zu Getränke- und Baumärkten, hässlichen Flachbauhallen mit Parkplätzen davor. Jeden Tag wird in Deutschland eine Fläche von mehr als 100 Fußballfeldern zugebaut. 100 Fußballfelder, jeden Tag. Für neue Baumärkte, Straßen, Wohnhäuser, Industriegebiete, Umgehungsstraßen. Überall dort, wo sich in den Vororten die bekannten Bau-Super-Drogerie-Billigklamottenmärkte umeinander gruppieren, gab es einmal Wiesen, Bäume, Tiere. Jetzt nicht mehr.

Brauchen wir das alles?

Ich war nun ein halbes Jahr unterwegs, mit einer Tasche, die 23 Kilo gewogen hat. In der Tasche waren riesige Gummistiefel, eine Guide-Gurttasche, ein paar Bücher und diverse Elektroniksachen für Vorträge. Und Winterkleidung. Eine Thermoskanne und ein Thermobecher. Hat mir etwas gefehlt? Nein.

Weil meine Tasche schon 23 Kilo wog, konnte ich außerdem nichts kaufen. Sie wäre zu schwer für Flüge geworden. Dabei habe ich etwas Interessantes festgestellt: Am Anfang fiel mir das „Nichtskaufen“ schwer. Es war aus der Not geboren, leider durfte ich nicht – so war das Gefühl. Das hat sich im Lauf der Zeit geändert und irgendwann war es leicht. Wenn man es einmal festgelegt hat, muss man auch nicht mehr immer wieder über einzelne Dinge nachdenken. Man kauft generell nichts. Man muss außerdem nicht mehr shoppen gehen, sondern kann die Zeit mit einer Tasse Tee an Deck in der Sonne sitzen. Sechs Monate und neun Tage lang also habe ich nichts gekauft außer einer Tube Zahnpasta und einer neuen Tourenhose, weil die alte zerrissen war. Am Ende dieser Saison bin ich froh darüber. An die Dinge, die ich anfangs kaufen wollte, kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich scheine sie also nicht gebraucht zu haben.

Zuhause sehe ich die bunten Werbeprospekte meiner Zeitung, die Werbung im Fernsehen. Luxusmagazine, Stilbeilagen. Sie sind angefüllt mit tausenden Dingen, die man sich kaufen kann. Die man kaufen soll, weil sie so schön, so schick, so wichtig sind. Ich schaue mir diese Dinge an, und denke, das ist alles ausnahmslos Zeug, das keiner wirklich braucht.

Wir sollen es aber brauchen.

Seitdem ich immer längere Zeiträume nicht mehr so richtig in diesem System lebe, schaue ich immer mehr von außen darauf. Und dabei stelle ich mir immer mehr Fragen.

Warum leben wir so, wie wir leben?

Warum brauchen wir für jeden Wein ein anderes Glas, warum gibt es Sahne-, Zucker-, Eis-, Espresso- und Olivenlöffel? Warum braucht man ein 524-teiliges Kaffeeservice und Tafelgeschirr, Essig- und Ölkaraffen, einen Tischgrill, Joghurtbereiter, Eismaschine, Eierkocher, Dampfgarer, elektrische Milchaufschäumer und Zitronenpressen? Eine Muffin und eine Muffin-Mini-Form und einen Thermomix? Und das sind nur die Haushaltsgeräte, von denen garantiert jeder welche zuhause hat und sie nie benützt, von denen er aber irgendwann in einem seltsamen Nestbau-Reflex dachte, dass er sie unbedingt braucht. Warum hat sich unsere Welt so entwickelt, dass es jetzt Handtaschen für 4000 Euro gibt, und dazu tatsächlich Menschen, die denken, sie brauchen sie?

Ich möchte auch nicht in einer Höhle leben. Ich habe gern ein gemütliches Zuhause und laufe nicht in zusammengenähten Bananenblättern herum. Ich habe auch nichts gegen elektrische Zitronenpressen. Wenn man damit Zitronen auspresst. Aber was ist mit all diesen ungenutzten Zitronenpressen, oder denen, die vielleicht einmal im Jahr verwendet werden? Was ist mit all den anderen Dingen, die zuhause herum liegen, und die man eigentlich nie benutzt?

Auch sie sind entwickelt, produziert, transportiert worden. Sie haben Arbeit verursacht, Ressourcen verbraucht, waren in der Luft, auf der Straße, sind in einem dieser Industriegebiete produziert, in einem dieser Baumärkte, Einrichtungshäuser, Markthallen verkauft worden, die zu diesen 100 Fußballfeldern gehören, die jeden einzelnen Tag in Deutschland zugebaut werden. Mit einem unnützen Einkauf kauft man nicht nur dieses eine unnütze Teil. Man trägt zu dieser ganzen fatalen Entwicklung bei. Und die Leidtragenden sind wir am Ende selber.

Wir bauen unsere Landschaft zu. Wir verbringen unsere Zeit in Fabriken und Büros, um Dinge zu entwickeln, herzustellen, transportieren. Und wir verbringen dort immer mehr Zeit, weil wir immer mehr Geld brauchen, um unser jeweiliges System am Laufen zu halten. Für das Zahlen von Haus- und Wohnungsraten, für immer mehr Dinge. Von denen wir aus irgendeiner Dynamik heraus glauben, dass wir sie brauchen. Für ein heimeliges, ein glückliches, ein schickes Gefühl. Am Ende liegen sehr viele dieser Dinge dann in Schubladen, Garagen und auf Dachböden, werden nur ein paar Wochen oder gar nicht benutzt, verstauben und werden weg geworfen. Und um das Geld für all diese Dinge zu verdienen, verschieben wir das Leben derweil auf später.

Sind wir noch zu retten?

2 Gedanken zu „Wie wollen wir leben?

  • 22. November 2016 um 2:52 am
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    Zu retten? Ja – solange es Menschen gibt wie Dich! Ueberall wo Dir Menschen begegnet sind, entstehen kleine Inseln von Verständnis, von Respekt – von Beziehung zur Natur, zum Menschen. Nicht die ganze Welt verändert sich sondern die kleinen Welten. Dir sei Dank dafür – Spitzbergen hats gezeigt!

  • 27. Oktober 2016 um 6:47 pm
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    Mit dem was Du schreibst liegst Du absolut richtig, Birgit. Und wenn man, so wie Du, nach über einem halben Jahr wieder zurück in die dicht besiedelte Heimat kommt kann ich Deine Gedanken absolut nachvollziehen. Mir ging es schon fast so nach nur gut 2 Wochen.

    Nur ist das natürlich auch eine sehr subjektive Sichtweise von Dir. Nicht jeder kann und möchte so leben und natürlich braucht man kein 524-teiliges Kaffeeservice. Das habe ich mich übrigens auch schon immer gefragt wozu und warum man all das braucht.

    Immer mehr Zeit im Büro? Würde ich nicht sagen. Ich habe eine geregelte Arbeitszeit, 30 Tage Urlaub im Jahr, was international gesehen viel ist, und mein Einkommen ermöglicht mir solche Reisen wie die um Spitzbergen herum unternehmen zu können. Und DAS ist für mich sehr wichtig. Das Erlebnis und die gewonnene Erfahrung sind unbezahlbar.

    Ich verschiebe nicht das was ich machen kann und will, mein Job gibt mir die Freiheit dies zu tun.

    PS: meine bestimmt 30 Jahre alte Zitronenpresse erfüllt nach wie vor ihren Zweck zur vollsten Zufriedenheit 😉

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