Rezension in der FAZ

Die Moderne der Eiszeit

Vielleicht ist es ja so: Birgit Lutz war fünf-zehn Mal am Nordpol und hat das Inlandeis von Grönland durchquert, ist also oft und lange gegangen, auf Skiern, Schritt für Schritt. Das hat sich auf ihre Art zu schreiben übertragen, und das ist ein Segen. Sie beobachtet in Ruhe und schreibt mit langem Atem. Nachdem sie 2013 das grönländische Inlandeis durchquert hatte, schlich sich bei ihr das Gefühl ein, an Grönland vorbeigelaufen zu sein. Und so kehrt sie zurück – nach Ostgrönland, mehrmals, nun nicht als Expeditionsleiterin, und lebt in Tassilaq, dem einzig größeren Ort an der Ostküste, und macht, wofür Abenteurer meist keine Zeit haben: Sie lebt mit den Menschen, spricht mit vielen und beobachtet, wie das ist, wenn eine Kultur binnen kürzester Zeit von einem ursprünglichen Leben als Jäger in Eis und Einsamkeit in die moderne Welt katapultiert wurde. Mit allen Nachteilen. Und vielen Vorteilen. Und einer Zukunft, die ungewiss ist, weil, sagt Lutz, das, was die Menschen gelernt haben, heute nichts mehr zählt: zu wissen, wo Muscheln wachsen oder wann die Wale kommen. Während viele Völker von einer Jägerkultur über die Sesshaftigkeit der Landwirtschaft ins moderne Leben hineinwuchsen, mussten die Ostgrönländer diese Stufe überspringen. Bei ihnen wächst nichts, und auf dem Weg in die Internetzukunft sind nicht alle schnell mitgekommen. Lutz schreibt auch über Alkoholmissbrauch, Inzest und Suizid, hält sich aber mit einem Urteil zurück und fällt keine vorschnellen Schlüsse. Sie lässt Einheimische zu Wort kommen – Robbenjäger, Pfarrer und eine Politikerin. Sie stellt eigene Erlebnisse und Beobach- tungen dazu, und so entsteht nach und nach ein Bild. Man spürt ihre Trauer über manche Zustände, aber auch die Ratlosigkeit. Und sie schreibt vom Glück, das sie durchfließt, wenn sie eintaucht in die Ruhe der Natur, zwischen Felsen, Eisbergen und dem Meer. bär